
Ausschuss für Inneres und Heimat
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
THOMAE-Gastbeitrag: Selbstbestimmung von der Wiege bis ins Grab
Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Stephan Thomae schrieb für „FAZ Einspruch“ den folgenden Gastbeitrag:
Selbstbestimmt und eigenverantwortlich darüber bestimmen zu können, nach welchen Grundsätzen wir unser Leben führen und gestalten möchten, gehört zu den wichtigsten Freiheitsversprechen und ist Orientierungspunkt jeder Entscheidung freiheitlich-demokratischer Politik. Besonders in dem privatesten Bereich eines Menschen lässt sich die individuelle Lebensgestaltung nicht in ein vom Staat vorgegebenes enges Korsett schnüren. Die Menschen in unserem Land sind inzwischen informierter und selbstbestimmter als jemals zuvor. Das Recht muss mit dieser Entwicklung Schritt halten und soll neue Lebensmodelle und selbstbestimmte Entscheidungen ermöglichen, nicht verhindern. Wir brauchen deshalb eine „Agenda für mehr Selbstbestimmung“, die den Einzelnen wieder mehr in den Fokus rückt.
Erstens müssen wir die Voraussetzungen schaffen, damit sich mehr Menschen ihren Kinderwunsch erfüllen können, wenn es auf natürlichem Wege, häufig nach jahrelangen Versuchen, nicht gelingt. Die Politik sollte sich einer modernen Reproduktionsmedizin offen und ohne Abwehrreflexe stellen. Ethik und Moral bilden das notwendige Korrektiv zu den immer neuen medizinischen Möglichkeiten wie beispielsweise der Gen-Schere CRISPR/Cas9 oder dem Klonen von Menschen. Eizellenspende und nichtkommerzielle Leihmutterschaft hingegen müssen auch in Deutschland erlaubt sein. Bei der rechtlichen Umsetzung sollte das Hauptaugenmerk auf den Betroffenen liegen. Zum einen darf es zu keinen abstammungsrechtlichen Wertungswidersprüchen kommen. Es muss deshalb klar sein, wer die Verantwortung für das Kind dauerhaft übernimmt. Zum anderen darf ein durch Samenspende, Eizellenspende oder Leihmutterschaft zur Welt gekommener Mensch nicht schlechter gestellt werden als ein auf natürlichem Weg geborener Mensch, sei es in Fragen der Elternschaft oder des Sorge- und Umgangsrechts.
Zweitens brauchen wir ein zeitgemäßes, flexibles Unterhaltsrecht. Nach einer Allensbach-Studie wünschen sich 70 Prozent der Eltern auch nach einer Trennung, ihre Kinder gemeinsam zu erziehen. Darin hindert sie unter anderem das starre Modell des Unterhaltsrechts. Danach erbringt ein Elternteil seinen Anteil durch Erziehung des Kindes (Betreuungsunterhalt), während der andere Unterhalt zahlt (Barunterhalt). Das entspricht dem sogenannten Residenzmodell, bei dem ein Kind bei einem Elternteil lebt. Dieses unterhaltsrechtliche Entweder-oder benachteiligt flexible Modelle mit individuellen Betreuungsanteilen oder einer paritätischen Betreuung (sogenanntes Wechselmodell). Fair wäre ein Unterhaltsrecht, das sich an den tatsächlichen Betreuungsleistungen orientiert und die Entscheidung der Familie respektiert, wie sie ihr Leben nach einer Trennung ordnet. Das Unterhaltsrecht dient dazu, den materiellen Lebensunterhalt des Kindes zu sichern. Am wenigsten dient es aber dem Kindeswohl, wenn ein Elternteil allein aufgrund der finanziellen Auswirkungen des Unterhaltsrecht seinen Wunsch aufgeben muss, mehr an der Betreuung seiner Kinder mitzuwirken. Das Unterhaltsrecht ist dabei nur einer der Steine, die dem Wechselmodell aus dem Weg geräumt werden müssen.
Kinder haben drittens auch einen Anspruch darauf, dass Väter Verantwortung übernehmen und über wichtige Entscheidungen in ihrem Leben mitentscheiden können. Was für minderjährige Kinder nach der Trennung und Scheidung ihrer Eltern gilt, muss auch für Kinder unverheirateter Paare gelten können. Deshalb wäre es folgerichtig, dass Väter mit Anerkennung der Vaterschaft zugleich die gemeinsame Sorge übernehmen können, auch wenn sie mit der Mutter des Kindes nicht verheiratet sind. Nur wenn die Mutter widerspricht, sollten die Familiengerichte über eine dem Kindeswohl entsprechende Lösung entscheiden.
Viertens wollen wir das Rechtsinstitut der Verantwortungsgemeinschaft einführen, damit Menschen ihr Leben auch außerhalb einer Liebesbeziehung und außerhalb einer Ehe gemeinsam und selbstbestimmt organisieren können. Denn in einer Zeit, in der traditionelle Familienstrukturen gerade im Alter nicht immer tragen, wächst der Bedarf an neuen Formen gegenseitiger Absicherung. Neben der Möglichkeit, die Übernahme von Rechten und Pflichten individuell zu gestalten, sind innerhalb einer Verantwortungsgemeinschaft auch steuerliche Anreize vorstellbar, beispielsweise durch Freibeträge bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer oder bei der Gütergemeinschaft durch einen Wechsel der Steuerklassen. Wenn Menschen dauerhaft Verantwortung füreinander übernehmen und sich zu gegenseitiger Fürsorge verpflichten wollen, sollte die Gesellschaft dies honorieren.
Fünftens muss der Selbstbestimmung auch am Lebensende größtmöglicher Gestaltungsspielraum eingeräumt werden. So ist eine aus freiem Willen gebildete Entscheidung gegen das Leben zu akzeptieren. Wer als Arzt oder Angehöriger aus Mitgefühl und Mitmenschlichkeit einem Suizid assistiert, darf nicht einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt sein.
Selbstbestimmung und Menschenwürde enden auch nicht mit dem Tod. Es gehört zur Würde eines Menschen, zu Lebzeiten selbst darüber bestimmen zu dürfen, was nach dem Tod mit dem eigenen Körper geschieht. Mit dieser Grundüberlegung zur Neuordnung der Organspende ist die Vorstellung unvereinbar, der Körper eines Menschen sei nach seinem Tod gewissermaßen Allgemeingut, sofern er nicht aktiv widersprochen hat. Statt einer Widerspruchslösung, sei es auch aus edlen Motiven zur Rettung anderer Menschen, sollte deshalb der verpflichtenden Entscheidungslösung Vorzug gewährt werden.