Stellv. Fraktionsvorsitzende

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Katja Suding
Pressemitteilung

SUDING-Gastbeitrag: Ein guter Sozialstaat muss seine Bürger entfesseln

Die stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Katja Suding schrieb für die „Wirtschaftswoche“ den folgenden Gastbeitrag:

Viele Politiker gehen bei ihren Vorstellungen von einem guten Sozialstaat von einem Bürger aus, der vom Staat wie ein unmündiges Kind an die Hand genommen werden muss. Die Aufgabe des Sozialstaates sehen sie darin, Menschen dauerhaft zu unterstützen oder sie über Zwang dazu zu motivieren, zu arbeiten und Geld zu verdienen.

Damit trauen sie den Menschen wenig zu – wenig Kreativität und Fähigkeiten, wenig Willen zu Leistung und Aufstieg. Mein Menschenbild ist das nicht. Ich habe erlebt: Die allermeisten Menschen wollen etwas leisten, für sich und für andere. Menschen haben nicht zu wenig Ehrgeiz, sie stehen vor zu vielen Hürden. Das zu verkennen ist das größte Problem, wenn wir aktuell über den Sozialstaat der Zukunft diskutieren.

Deshalb brauchen wir einen entfesselnden Sozialstaat: Seine zentrale Aufgabe wäre es, diese Hürden abzubauen. Ein entfesselnder Sozialstaat unterstützt die Bürger, sich unabhängig von ihrer Herkunft frei zu entfalten. Denn die große Mehrheit derer, die von der Solidargemeinschaft Hilfe bekommen, will nicht einfach nur versorgt werden: Sie wartet darauf, entfesselt zu werden und loslegen zu dürfen – und zwar ohne dass ihnen der Staat weiter Steine in den Weg legt.

Der deutsche Sozialstaat, wie er heute ist, aber ist widersprüchlich. Zahlreiche seiner Instrumente schaffen neue Ungerechtigkeiten, sie binden und sie schränken ein, anstatt Chancen und Perspektiven zu schaffen. Das macht unseren Sozialstaat teuer, ineffizient, intransparent und ungerecht. Stark ist der Sozialstaat dagegen, wenn er diejenigen zielgerichtet und mit passgenauen Angeboten unterstützt, die es noch nicht oder nicht mehr ohne die Unterstützung der Solidargemeinschaft schaffen. Wie sich dies erreichen ließe, dafür gibt es einige Beispiele.

Erstens: Nicht ein Aufblähen unseres Sozialstaates, sondern gute Schulen und Hochschulen sind die beste Sozialpolitik. Unser Bildungssystem muss jedem Kind die Chance geben, beste Bildung zu erhalten, egal, in welchem Elternhaus es aufwächst. Doch davon sind wir weit entfernt. Ganz gleich, ob Abitur, Studium oder Promotion: Arbeiterkinder haben auf jeder Bildungsstufe schlechtere Chancen als Akademikerkinder – und zwar unabhängig davon, wie viele Hürden sie bereits genommen haben. Deshalb brauchen wir einen modernen Bildungsföderalismus, der Bildung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe von Bund und Ländern begreift.

Zweitens: Fordern und fördern – das sollte der Grundsatz von Hartz IV sein. Doch in der Realität zeigt sich: Wer einmal in Hartz IV gerutscht ist, kommt so schnell nicht wieder heraus. Denn wer einen Job findet, mit dem er etwas hinzuverdienen kann, stellt bald fest, dass unterm Strich fast nichts von seinem zusätzlichen Einkommen übrig bleibt. Das verheerende Signal: Arbeit lohnt sich nicht. Ziel muss es sein, dass die Menschen schnell keine Transfers mehr beziehen müssen und selbst für sich und ihre Familien sorgen können. Wir wollen daher, dass Hartz-IV-Empfänger, die mehr Einkommen erwirtschaften, davon mehr behalten dürfen. Jede zusätzliche Arbeitsstunde muss sich lohnen.

Drittens: Unsere Arbeitswelt wandelt sich rasant. Viele bringen heute ihr Wissen als Spezialisten auf Zeit in Projektteams sein. Diese Freelancer fallen aber meist durchs Raster unseres Sozialsystems. Denn wer angestellt war und dann selbstständig wird, verliert seine Riester-Förderung. Auch eine Basisabsicherung für Selbstständige ohne berufsständische Versorgungswerke fehlt.

Nur wenn sie verbindlich feststellen sollen, ob Menschen angestellt sind oder selbstständig arbeiten, entfalten die Sozialversicherungen plötzlich größtes Engagement – und das geschieht häufig nicht zugunsten der vermeintlich Scheinselbstständigen. Wir brauchen daher Rechtssicherheit für neue Arbeitsformen in der modernen Arbeitswelt, beispielsweise Positivkriterien, mit denen eine Selbstständigkeit nachgewiesen werden kann.

Und viertens: Auch im wohlverdienten Ruhestand offenbart das Sozialsystem seine Tücken. Nach den Plänen von Arbeitsminister Hubertus Heil soll jemand, der 35 Jahre lang für ein paar Stunden im Familienbetrieb mitgeholfen hat, eine höhere Rente bekommen als jemand, der 34 Jahre Vollzeit gearbeitet hat, und das, ohne die Bedürftigkeit zu überprüfen. Unser Sozialsystem muss zielgenau gegen Altersarmut vorgehen. Und es muss gerecht sein. Wer arbeitet, muss im Alter mehr haben als die Grundsicherung. Und er muss mehr haben als jemand, der in seinem Leben nicht gearbeitet hat. Mit Freibeträgen auf Einkünfte aus der gesetzlichen Rentenversicherung und der privaten Vorsorge wollen wir das möglich machen.

Unser Sozialstaat wird dann gut funktionieren, wenn jeder Verantwortung übernimmt. Diejenigen, die ihn finanzieren, tragen durch ihre Steuern und Abgaben zum Funktionieren des Sozialstaats bei. Diejenigen, die Hilfe annehmen, müssen sich anstrengen, um bald wieder auf eigenen Füßen zu stehen. Das sorgt für breite Akzeptanz und Zielgenauigkeit unseres Sozialsystems. Der Leitgedanke muss sein: Der Sozialstaat schafft Chancen und entfesselt seine Bürger, damit sie ihr volles Potenzial entfalten können, unabhängig von Herkunft und Schicksalsschlägen und immer bereit, eine zweite Chance zu geben. Und auch eine dritte.

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