Christian Lindner
Pressemitteilung

LINDNER-Interview: Ich gebe keine Seele verloren

Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Lindner gab „Christ & Welt“ das folgende Interview. Die Fragen stellten Fabian Klask und Merle Schmalenbach:

Frage: Herr Lindner, wissen Sie, wie viele Muslime in der FDP sind?

Lindner: Nein, wir erheben die Religion unserer Mitglieder nicht. Ich weiß, dass säkulare Muslime uns wählen. Es könnten aber gerne noch mehr sein.

Frage: Wer ist denn in Ihren Augen ein säkularer Muslim?

Lindner: Damit meine ich diejenigen, die einerseits kein autoritäres Staats- und Gesellschaftsbild pflegen und die andererseits die weltlichen Gebote des Rechtsstaats von religiöser Verkündung trennen und Toleranz gegenüber allen Religionen leben.

Frage: Wie viel Prozent der Muslime in Deutschland schätzen Sie als liberal ein?

Lindner: Das weiß ich nicht. Ich befürchte aber, dass der Anteil durch die Migrationsbewegungen der letzten drei Jahre gesunken ist. Bei den säkular Eingestellten haben viele liberale Werte, dann übrigens nicht nur in weltanschaulicher, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Bei sehr frommen Muslimen gibt es hingegen oft eine Nähe auch zu autoritären Vorstellungen in der Politik.

Frage: Haben Sie zu der Mehrheit der Muslime im Alltag überhaupt Kontakt? So wie Jens Spahn, der sich im Fitnessstudio über die Macho-Kultur ärgert?

Lindner: Vermutlich ähnlich viele Begegnungen wie Sie. Im Kiosk oder im Supermarkt, auf der Straße oder in der Bahn. Hätte ich Kinder, dann in Kita und Schule sicher mehr. Ob Herr Spahn so oft im Fitnessstudio Kontakt zu Muslimen hat, das kann ich nicht beurteilen.

Frage: Jens Spahn fühlt sich da manchmal beeinträchtigt. Sie auch?

Lindner: Nein. Ich fühle mich nicht bedrängt, wenn im Supermarkt neben mir jemand mit Kopftuch steht – egal, ob das eine sorbische Oma ist oder eine Muslima. Wenn mich was ärgert, dann sind es in Berlin auf dem Kudamm junge Männer mit Migrationshintergrund, die im 500er Mercedes zu schnell und mit viel zu lautem Auspuff unterwegs sind. Aber da spielt weniger die Religion eine Rolle als das Testosteron.

Frage: Noch einmal zurück zu den liberalen Muslimen: Wollen Sie stärker auf diese Gruppe zugehen?

Lindner: Ich spreche mich dafür aus, dass wir innerhalb der deutschen Gesellschaft den liberalen Vertretern des Islam den Rücken stärken und Gehör schenken. Sie sind leider nicht so gut organisiert. Es sind eher Einzelpersonen, die innerhalb der islamischen Community für neues Denken argumentieren.

Frage: Redet der Staat aus Ihrer Sicht bislang mit den Falschen?

Lindner: Der Staat muss mit allen reden. Wenn öfter säkulare und liberale Muslime eine Rolle bei Konferenzen spielen, finde ich das gut. Aber hier geht es um einen Entwicklungsprozess innerhalb der islamischen Community. Da hat der Staat nichts zu suchen. Die Debatte müssen die Muslime selbst führen. Ich vergleiche das mit den Debatten über die katholische Kirche und ihre Dogmen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Damals war es nicht die Regierung Adenauers, die gesagt hat: Hier in der katholischen Kirche gibt s Erneuerungsbedarf. Das kam aus der Mitte der Gesellschaft. Und am Ende war die Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine andere. Schon klar: Im Islam ist ein solches Aggiornamento schwerer zu erreichen, weil es keine einheitliche Lehrmeinung gibt.

Frage: Wie wollen Sie den säkularen Islam dann überhaupt stärken?

Lindner: Das kann nur jeder Einzelne. Die Politik kann Muslime nicht fragen: „Wie denkst du im Innersten eigentlich über Andersgläubige?“ Das Forum internum ist dem Staat des Grundgesetzes nicht zugänglich. Als Bürger aber darf ich meinen Obsthändler fragen. Ich darf den Verkäufer hinter der Theke an meinem Kiosk fragen. Und ich darf meinen Nachbarn oder meinen Taxifahrer fragen, ob er mich als Ungläubigen sieht, der verachtet wird. Solche Diskussionen sind notwendig, ich wundere mich, wie verhalten viele sind. Gerade die politische Linke und die Frauenbewegung, die so vehement gegen die katholische Kirche diskutiert haben, sind bei konservativen Muslimen debattenscheu. Man hört fast nur konservative Politiker, die sich regelrecht am Islam abarbeiten und das Christentum zur Staatsreligion ausrufen wollen. Es ist erwartbar, dass die sagen: Der Islam gehört nicht zu Deutschland.

Frage: Und? Gehört er zu Deutschland?

Lindner: Es überrascht mich immer, wenn sich Politiker festlegen, der Islam gehöre zu Deutschland oder eben nicht. Es gibt ja nicht „den Islam“. Wie kann man dann sagen, „der Islam“ gehöre dazu oder nicht? Das finde ich rätselhaft.

Frage: Da geht es doch um die Frage nach Identität.

Lindner: Oder um die Versuchung, Dinge zu vereinfachen, die sich nicht vereinfachen lassen.

Frage: Bei Union und SPD gibt es Sympathien für eine Moscheesteuer. Der Staat würde die Abgabe dann wie die Kirchensteuer automatisch von Mitgliedern muslimischer Gemeinden einziehen. Könnte das den liberalen Islam stärken, weil Geldgeber aus dem Ausland unwichtiger würden?

Lindner: Es ist richtig, dass islamische Gemeinden von den Gläubigen hier finanziert werden sollen. Finanzhilfen zum Beispiel aus Saudi-Arabien werden immer mit dem Versuch verbunden sein, religiös Einfluss zu nehmen, bis hin zur Radikalisierung. Das Modell der Kirchenfinanzierung in Deutschland über den staatlichen Einzug der Kirchensteuer ist nicht ideal, ich sehe derzeit aber keine Alternative hierzu. Grundsätzlich steht dieses Instrument auch muslimischen Gemeinschaften offen. Sie müssten sich aber selbst um die Anerkennung als Körperschaften des öffentlichen Rechts bemühen und ihre Mitglieder registrieren. Das kann nicht vom Staat aus organisiert werden.

Frage: Wie soll sich der Staat verhalten, wenn eine Richterin ein Kopftuch tragen will?

Lindner: Das Recht erlaubt das. Könnte ich es regeln, würde ich es anders machen. Wer sich auf die Seite des Staats begibt, der muss auch als Person weltanschauliche Neutralität zeigen. Das gilt in meinen Augen auch zum Beispiel für die Lehrerin.

Frage: Aber in Deutschland gilt die Religionsfreiheit.

Lindner: Ja, aber bei Amtspersonen im öffentlichen Dienst sehe ich eine Pflicht zur Zurückhaltung. Auch zum Beispiel ein offensiv getragenes Abzeichen einer demokratischen Partei würde ich bei einem Lehrer für inakzeptabel halten.

Frage: Was ist mit Privatleuten? Muss eine Muslima Ihrer Meinung nach die Burka ablegen, wenn sie dem Staat entgegentritt?

Lindner: Im Supermarkt soll jeder tragen können, was er möchte. Beim Elternsprechtag oder einem Behördengang kann man erwarten, dass Gesicht gezeigt wird. Das gilt auch für den Schwimmunterricht. Es darf da keinen Opt-out geben aus religiösen Gefühlen heraus.

Frage: Und wie steht’s mit dem Kopftuch für Schülerinnen?

Lindner: Das ist eine Frage der Religionsfreiheit, die man staatlicherseits nicht einschränken kann.

Frage: Aber Sie lehnen es persönlich ab.

Lindner: Nein, ich sehe es nur differenziert. Bei kleinen Mädchen in der Kita oder der Grundschule, also vor der Religionsmündigkeit, überzeugt mich nicht, dass diese Kinder Kopftuch tragen müssten. Deren Zahl steigt nach Berichten aus der Praxis.

Frage: Die Gegenseite sagt: Das Kopftuch tut doch niemandem weh ...

Lindner: Bei ganz kleinen Kindern könnte das Kopftuch eine Rollenprägung sehr früh verstärken und der Integration in die Gruppe entgegenstehen. Es hat den Schutz vor sexuellem Übergriff als Ursprung. Das kann ich bei einem Kindergartenkind, auch mit weiblichem Geschlecht, nicht erkennen. Den Verzicht darauf sehe ich aber weniger als Gesetz, sondern mehr als Empfehlung in der Hausordnung einer Kita oder Grundschule.

Frage: Eine solche Hausordnung hat vor Gericht aber sicher keinen Bestand.

Lindner: Ich bin nicht sicher, was das Bundesverfassungsgericht zu einem gesetzlichen Kopftuchverbot bei religionsunmündigen Kindern sagen würde. Eines weiß ich aber: Die rigorose Durchsetzung solcher Maßnahmen in der Praxis vor Ort brächte Probleme. Deshalb spreche ich von Empfehlungen, die man mit Eltern unter Hinzuziehung eines Imams besprechen sollte. Etwa so: „Ihr sechsjähriges Kind soll in der Schule Kopftuch tragen. Unser Staat erlaubt das. Wir finden das aber problematisch. Denn Sie wissen schon, dass Ihre Tochter dann von vornherein anders von den Kindern angeschaut wird? Wollen Sie das? Warum?“ So stelle ich mir das vor.

Frage: Sie glauben wirklich, dass die Eltern dann sofort einknicken?

Lindner: Was ist denn Ihre Alternative zum Gespräch? Ich bin kein Freund von staatlichem Diktat, aber vom Dialog. Zumindest darf man nie unversucht lassen, einen Stein ins Rollen zu bringen.

Frage: Kritiker befürchten: Weil man das Kopftuch nicht will, entsorgt man die christlichen Symbole gleich mit. Es soll ja gerecht zugehen.

Lindner: Die Polemik halte ich für unnötig. Für mich ist jede Form der Symbolpolitik mit religiösen Zeichen gefährlich. Nehmen Sie einen alten Gerichtssaal. Da hat vielleicht einmal ein Amtsgerichtsdirektor anno 1956 ein Kreuz aufgehängt – ohne staatliche Anweisung. Und keiner hat daran Anstoß genommen. Das jetzt abzunehmen wäre ein Symbol, das von vielen Menschen missverstanden würde. Das wäre Wasser auf die Mühlen derjenigen, die Überfremdungsängste kultivieren wollen. Umgekehrt neue Kreuze hinzuhängen, wie das die bayerische Regierung ihren Behörden angeordnet hat, ist auch ein Symbol. Da wird plötzlich Religion zu einer politischen Kategorie, und das Christentum wird in einen Zusammenhang mit Wahlkampf und Staat gebracht. Letztlich wird das Kreuz profanisiert. Die katholischen Bischöfe haben sich daher zu Recht gegen diese Entscheidung der CSU gewehrt.

Frage: Der konfessionslose Christian Lindner würde sich im Gerichtsaal wirklich nicht an einem Kreuz stören?

Lindner: Nein. Auch in der Präambel unserer Verfassung gibt es einen Gottesbezug. Würde man heute eine neue Verfassung schreiben, dann würde es darüber eine Debatte geben. Aber das Grundgesetz ist nun einmal ein historisches Dokument. Und so gibt es auch Räume wie Gerichtssäle, in denen einmal ein Kreuz angebracht worden ist.

Frage: Aber ist es nicht schwierig, im Gerichtssaal das eine Symbol zu verbieten und das andere zu erlauben?

Lindner: Mir geht es um die kommunikative Intensität. Wo etwas war, soll es bleiben können. Zugleich ist mir wichtig, dass niemand das Gefühl hat, in der vielfältigen und toleranten Gesellschaft wird ihm etwas weggenommen. Wenn beispielsweise im Kindergarten nicht mehr Sankt Martin gefeiert wird, sondern ein Lampenfest. Ich habe übrigens noch nie gehört, dass Muslime darauf gedrungen hätten. Oft ist es eine vorauseilende Anpassung, die niemand gefordert hat.

Frage: Sympathisieren Sie mit dem österreichischen Islamgesetz?

Lindner: Ich habe das durch unsere Verfassungsjuristen prüfen lassen. Es enthält einige Festlegungen, die politisch sinnvoll sind. Aber allein schon wegen der Bund-Länder-Zuständigkeiten kann einiges nicht übertragen werden. Vor allem kann es nicht sinnvoll sein, dass jede Religion ihr eigenes Gesetz bekommt.

Frage: Manche werfen den Machern des Gesetzes eine kolonialistische Haltung vor.

Lindner: In die Debatte in Österreich mische ich mich nicht ein. Mir geht es um die Aufgaben, die wir haben. Ich halte es zum Beispiel für erstrebenswert, dass Imame in Deutschland ausgebildet werden, in der Moschee Deutsch sprechen, dass die Finanzierung von Moscheevereinen aus dem Ausland kontrolliert wird, dass es einen Lehrplan für islamischen Religionsunterricht in den Schulen gibt.

Frage: Teilt man die Welt da nicht in „böse“ und „gute“ Muslime?

Lindner: Nein. Erzkonservative Muslime und ebensolche evangelikale Christen sind mir gleichermaßen suspekt. Wenn sie die Bibel wörtlich nehmen und naturwissenschaftliche Erkenntnisse wie die Evolutionstheorie infrage stellen. Die müssen sich der Debatte stellen. Das ist die Anforderung, die der Liberale an den Gläubigen hat.

Frage: Das ist eine sehr rationalistische Sicht. Nach dem Motto: Eine Religion muss erst die Aufklärung durchlaufen und alles Irrationale abstreifen, bis man sie wirklich akzeptieren kann. Ist es dann noch Religion?

Lindner: Die Auseinandersetzung zwischen Vernunft und Glauben hat die christliche Theologie bekanntlich längst hinter sich. Wenn man bei uns lebt, muss man sich zivilisatorischen Fragen stellen. In unserem Land muss jeder die Freiheit und eben auch Religionsfreiheit der anderen akzeptieren. Das ist die Grundlage unseres Zusammenlebens.

Frage: Wäre denn ein muslimischer Bundespräsident für Sie denkbar?

Lindner: Das kann man nicht pauschal sagen. Es kommt auf die Eignung einer Persönlichkeit an.

Frage: Bei der vergangenen Wahl zum Bundespräsidenten wurden im Vorfeld auch muslimische Namen genannt.

Lindner: Ich schätze die damals vorgeschlagenen Persönlichkeiten, aber ich hätte es auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise nicht empfehlenswert empfunden, genau mit dieser Begründung einer Religionsangehörigkeit eine solche Persönlichkeit zu wählen.

Frage: Wann ist Deutschland bereit für einen muslimischen Bundespräsidenten?

Lindner: Generell sollte nicht die Religion den Ausschlag geben, jemanden zum Bundespräsidenten zu wählen, sondern die Person. Ich würde meine Wahl eines Staatsoberhauptes als Mitglied der Bundesversammlung nur von der Persönlichkeit abhängig machen. Und für mich ist eine individuelle Religionszugehörigkeit nicht per se ein Qualitätsmerkmal oder ein K.-o.-Kriterium.

Frage: Können Sie sich auch einen muslimischen Bundespräsidenten vorstellen, der sich stark über seinen Glauben definiert?

Lindner: Ich will es Ihnen anders sagen: Es war mir völlig gleich, dass Joachim Gauck gleichzeitig Bundespräsident und evangelischer Theologe war. Es hätte mich auch nicht gestört, wenn er Atheist gewesen wäre oder Buddhist oder Muslim. Eingenommen hat mich sein Bekenntnis zum Grundwert der Freiheit.

Frage: Ein evangelischer Theologe ist also in Ordnung. Und ein Imam außer Dienst?

Lindner: Das möchte ich nicht abstrakt beantworten.

Frage: Ist es Ihnen wichtig oder nicht wichtig, dass Deutschland ein christliches Land bleibt?

Lindner: Ich sehe Deutschland als eine liberale Gesellschaft. Das Christentum ist nicht die Hauptquelle unserer Werteordnung.

Frage: Sondern?

Lindner: Dazu gehören auch: der Gedanke der Aufklärung, die Französische Revolution, das römische Recht, das antike Verständnis von Wissenschaft und Demokratie. Wer sagt, unsere Leitkultur ist christliches Weihnachtslied, Sauerkraut und Wagner-Oper, der blendet andere Quellen unserer Kultur aus und schließt Menschen aus. Mich zum Beispiel.

Frage: Ist das, was Sie über das Christentum wissen, die Draufsicht eines Außenstehenden?

Lindner: Ich bin zur Kommunion gegangen, aber nach meinem 18. Geburtstag aus der katholischen Kirche ausgetreten.

Frage: Hat Sie die Institution Kirche gestört? Oder haben Sie sich gedacht: „Ich kann das einfach nicht glauben, was da erzählt wird?“

Lindner: (zögert) Es ist für einen naturwissenschaftlich interessierten Menschen wie mich eine Hürde, sich mit metaphysischen Fragen zu beschäftigen. Die Dogmen kommen noch dazu. Ich bin kein harter Atheist oder gar Kirchenfeind. Aber ich bin keiner, der einmal im Jahr pro forma in die Christmette geht. Das brauche ich nicht. Die Kant’sche Frage, was wir hoffen dürfen, habe ich für mich recht skeptisch beantworten müssen.

Frage: Sie haben nicht die Hoffnung, dass nach dem Tod noch etwas kommt?

Lindner: Ich würde mich sehr über eine positive Überraschung nach dem Tod freuen. Sollte es keine geben, störtʼs mich auch nicht mehr. (lacht)

Frage: Aber woher beziehen Sie denn dann Ihren Trost, wo finden Sie Sinn?

Lindner: Ich versuche mich zum Beispiel so gut es geht an Immanuel Kants kategorischem Imperativ zu orientieren. Und ich lege mein Leben mit der kostbaren Ressource Zeit so an, dass es Sinn gibt und man für sich und andere etwas bewirkt hat.

Frage: Sucht Ihr rationaler Geist nie nach metaphysischen Antworten auf die großen Fragen des Lebens?

Lindner: Auf die großen Lebensfragen haben mich spirituelle Antworten bislang nicht sehr bewegt.

Frage: Hat Religion denn einen Wert für die Gesellschaft?

Lindner: Natürlich. Religion ist eine Quelle für Zusammenhalt, Sinn und Wertvorstellungen. Aber die für alle zugängliche Quelle ist eine andere: unsere Verfassung mit all ihren Werten. Für einen Christen ist das kein Widerspruch. Die Würde und Freiheit des Einzelnen sind die großen Innovationen des Christentums. Dazu passt auch die katholische Soziallehre, eine der Legitimationsgrundlagen für die freiheitliche Wirtschaftsordnung.

Frage: Jetzt klingen Sie wie Annegret Kramp-Karrenbauer ...

Lindner: Nein, ich will nur auf folgenden Gedanken hinaus: dass diese Gesellschaft einen Integrationskonsens braucht, den sowohl der säkulare als auch der religiöse Bürger für sich begründen kann. Und dass dieser nicht dem Christentum widersprechen muss.

Frage: Die katholische Nachkriegserzählung von Religion als Schutz gegen eine neue, überbordende Staatsideologie teilen Sie nicht?

Lindner: Wir sind heute weiter. In einer pluralen Gesellschaft hat aber sicher auch diese Erzählung ihre Anhänger. Annegret Kramp-Karrenbauer hat bei ihrer Bewerbungsrede zur Parteivorsitzenden ja etwas hervorgehoben, dass die CDU die Partei mit dem christlichen Markenkern sei. Was immer das genau bedeutet.

Frage: Nehmen Sie ihr diese Haltung ab?

Lindner: Ich glaube Annegret Kramp-Karrenbauer, dass sie das wirklich meint. Aber welche Ableitungen da rauskommen sollen, das erschließt sich mir noch nicht. Wir sind eine multireligiöse und multikulturelle Gesellschaft, zu der auch sogenannte „Biodeutsche“ gehören, die nicht gläubig sind. Diese Gesellschaft braucht einen ethischen Minimalkonsens, der unabhängig von einer einzelnen Religion ist. Sonst fliegt der Laden auseinander.

Frage: Dann kann Ihnen die Renaissance des Christlichen in der CDU nicht gefallen.

Lindner: Ob es die überhaupt gibt, wird sich zeigen. Aber es gibt Indizien, dass die CDU in der Gesellschaftspolitik eher zurück- als nach vorne schaut. Frau Kramp-Karrenbauer fand einmal, dass Ehe für alle in einen Kontext mit Inzest gehört. Wir haben das auch gesehen bei der Diskussion um den Paragrafen 219a StGB. Ich sehe da restaurative Tendenzen. Wir werden uns dem entgegenstellen. Ich empfehle meiner Partei, sehr progressiv in der Gesellschaftspolitik zu sein. Ich glaube nicht, dass alle diese Form von Konservativismus wollen, auch nicht alle Christinnen und Christen.

Frage: Die CDU findet zu ihrem Markenkern zurück. Das kann auch eine Chance sein.

Lindner: Die Gesellschaft hat sich verändert, und die CDU ist heute eine Partei der Mitte, die – das soll sich gar nicht böse anhören – von ihrer Konturlosigkeit sehr profitiert hat. Sie ist frei von jeder Form der Ideologie. Man fummelt sich so durch ... keine großen Visionen ... nicht viel Pathos ... und dann die Ehe für alle ... na gut... machen wir auch irgendwie so ... Davon hat die CDU ja gut gelebt und das Land auch nicht so schlecht. Und jetzt soll es ein Zurück geben? Ich denke: Diese ganzen Diskussionen um Kreuze an der Wand oder den Lebensschutz sind Bypässe. Es gibt eine identitäre Konfliktlinie in der Gesellschaft, die durch die Migrationsfrage offenbar geworden ist. Und statt die Migrationsfrage einfach zu lösen, durch ein weltoffenes, zugleich steuerndes Einwanderungsgesetz, werden andere identitäre Fragen kompensatorisch hochgezogen.

Frage: Wird an diesem Punkt Religion zu politisch für Sie?

Lindner: Die CDU ist eine Partei, die das C ja im Namen hat. Das ist aber nur eine Partei und nicht der Staat. Ich persönlich würde die CDU nicht wählen. (lacht)

Frage: Lassen Sie es uns anders versuchen: Ärgert es Sie, wenn Kirchen sich in die Politik einmischen?

Lindner: Nein! Die Kirchen sind gesellschaftliche Akteure und deshalb steht es ihnen natürlich frei. Bei mancher allgemeinpolitischen Äußerung frage ich mich aber, ob sie da eigentlich für alle ihre Angehörigen sprechen.

Frage: Zum Beispiel?

Lindner: Zum Beispiel bei mancher wirtschaftspolitischen Stellungnahme, die man so hört.

Frage: Früher war die Kirche ein Wutobjekt für viele Liberale. Sie klingen in unserem Interview hingegen erstaunlich sanft.

Lindner: Schon die Kirche der Neunzigerjahre wäre für mich kein Wutobjekt mehr gewesen. Ich würde aber sagen: Der jetzige Papst und sein Vorgänger sind für mich schwerer verdaulich als Johannes Paul II.

Frage: Was stört Sie an Franziskus?

Lindner: Seine konservative Haltung in bestimmten Glaubensfragen. Und das, was er wirtschaftspolitisch sagt, halte ich für einen Rückfall hinter „Centesimus annus“ von Johannes Paul II. Denn es ist einzig geprägt aus der lateinamerikanischen Perspektive. Das finde ich fragwürdig für den Führer einer Weltkirche.

Frage: Dann wären die wirtschaftskritischen Kirchentage wohl eher nichts für Sie.

Lindner: Moment – wenn ich eingeladen werde, diskutiere ich überall strittig. Ich gehe zu Kirchen, zu Gewerkschaften, ich gebe sozusagen keine Seele verloren für den Liberalismus. Ich war vor ein paar Jahren auf einem evangelischen Kirchentag im Gespräch mit Friedrich Schorlemmer. Das hat niemandem wehgetan.

Frage: Vielleicht lädt der Präsident des Kirchentags 2019, Hans Leyendecker, Sie ja jetzt ein, wenn er das liest ...

Lindner: Immer gerne.

Frage: Ist ja in Dortmund ...

Lindner: Genau, das kann man sogar mit Fußball verbinden.

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