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Christian Lindner
Pressemitteilung

LINDNER-Interview: Die Hinzuverdienstregelungen für Hartz-IV-Empfänger sind ein Skandal

Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Lindner gab den „Nürnberger Nachrichten“ (Montagsausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten Alexander Jungkunz, Manuel Kugler und Georg Escher:

Frage: Herr Lindner, wenn Sie sehen, was die Große Koalition jetzt so vorhat, wäre Schwarz-Grün-Gelb aus Ihrer Sicht nicht doch besser gewesen?

Lindner: Ich bin kein Zeithistoriker, deswegen schaue ich lieber nach vorne. Dennoch muss man sagen: Weder ein Jamaika-Bündnis noch die Große Koalition sind gegenwärtig Konstellationen, in denen es möglich scheint, grundlegende Reformen etwa nach dem Vorbild Frankreichs anzugehen – bei der Frage des Bildungssystems und des lebenslangen Lernens, des Arbeitsmarkts oder der Zukunft des Sozialstaats.

Frage: Sehen Sie denn solche Konstellationen in der Zukunft?

Lindner: Tatsächlich bin ich inzwischen optimistischer. Während der Jamaika-Gespräche wurde noch über alte Programme gesprochen, jetzt sagen die Beteiligten: Wir brauchen neue Grundsatzprogramme. Die CDU will sich inhaltlich erneuern, hat eine neue Generalsekretärin und macht ein neues Grundsatzprogramm. Die Grünen haben eine komplett neue Parteiführung und arbeiten ebenfalls an einem Grundsatzprogramm. Die Sozialdemokratie hat ihre Spitze ebenso ausgetauscht. Wir als FDP befinden uns – da wir eine neue Fraktion aufbauen – ohnehin in einem fortwährenden Update-Modus. Es gibt also eine Chance, dass sich im Lauf der nächsten drei Jahre die politischen Konstellationen im Land verändern.

Frage: Sie haben jüngst den Haushaltsentwurf von SPD-Finanzminister Olaf Scholz scharf kritisiert. Aber er wirtschaftet doch solide, macht keine neuen Schulden, setzt Schäubles Kurs fort – was stört Sie daran?

Lindner: In diesen Zeiten ist eine schwarze Null nicht Ausdruck von solidem Wirtschaften, sondern das Gegenteil. Aufgrund der niedrigen Zinsen und der bombastischen Wirtschaftslage müsste der Staat eigentlich hohe Überschüsse erzielen – die müssten dann investiert oder, besser noch, den Bürgerinnen und Bürgern und dem Mittelstand durch eine Steuerentlastung zurückgegeben werden.

Frage: Um solch eine Entlastung zu finanzieren, müsste Olaf Scholz doch neue Schulden machen.

Lindner: Nein. Es würde schon reichen, wenn Herr Scholz auf diese Kamellepolitik verzichten würde: Politiker versuchen populär zu werden, indem sie das Geld wie im rheinischen Karneval mit vollen Händen unter die Leute werfen. Wir sind aber nicht in einer Zeit, in der wir zusätzliche Subventionen, Progrämmchen und vergrößerte Ministerien brauchen. Wir sollten das Geld sparen und dort Schwerpunkte setzen, wo Zukunft gemacht wird. Und das bleibt völlig aus.

Frage: Der Berliner Bürgermeister Michael Müller hat mit seiner Idee eines „solidarischen Grundeinkommens“ einen Vorschlag gemacht, der mehr ist als ein bloßes Progrämmchen: Jeder Arbeitslose soll, wenn er das will, einen vom Staat bezahlten Job erhalten. Jemand leistet etwas und bekommt dafür mehr staatliche Hilfe – das müsste der FDP doch gefallen.

Lindner: Ich interpretiere Herrn Müllers Vorschlag anders. Er will die alten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aus den 90er Jahren wieder einführen, für die die Leute kleines Geld bekommen – für mich ist das eine Art Stilllegungsprämie. Ich bin für einen anderen Weg: Wir müssen die Menschen befähigen und so aktivieren, dass sie auf dem regulären Arbeitsmarkt bestehen können. Viele Langzeitarbeitslose sind in der Situation, dass sie nicht sofort Vollzeit arbeiten können. Für sie wäre der richtige Weg, Stunde für Stunde ihre Berufstätigkeit auszuweiten. Das ist mit den gegenwärtigen Hinzuverdienstregelungen für Hartz-IV-Empfänger aber kaum attraktiv. Ich halte es für einen Skandal unseres Sozialstaats, dass in bestimmten Konstellationen von jedem zusätzlich verdienten Euro 80 Cent an den Staat gehen oder man sogar weniger netto hat. Wir sagen: Jede zusätzliche Stunde Arbeit muss sich lohnen. Der Zugriff des Staates darf niemals höher als 50 Prozent sein.

Frage: Vielen Langzeitarbeitslosen fehlen berufliche Qualifikationen, doch Helferstellen, die für sie infrage kämen, sind Mangelware. Die Jobs, die Sie als Einstieg in den Arbeitsmarkt skizzieren, gibt es also gar nicht.

Lindner: Sie sagen, die Jobs gibt’s nicht, aber es gibt den Bedarf, zum Beispiel bei haushaltsnahen Dienstleistungen. So viele Langzeitarbeitslose haben wir nicht, als dass nicht eine Volkswirtschaft von 80 Millionen in der Lage wäre, für sie Jobs zu finden.

Frage: Gesundheitsminister Jens Spahn hat mit seiner Äußerung, Hartz IV sei nicht Armut, für eine Kontroverse gesorgt. Was sagt der FDP-Chef – ist Hartz IV Armut?

Lindner: Hartz IV ist eine Sicherung des sozioökonomischen Existenzminimums, es ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf sonst drohende bittere Armut und Not. Ich halte die Debatte aber für verfehlt, denn wir können mit Hartz IV nicht zufrieden sein. Hartz IV ist ein Magnet, der Menschen im Sozialleistungsbezug festhält, weil sich Arbeit zu wenig rentiert.

Frage: Die Grünen wollen die Hartz-IV-Sanktionen abschaffen. Was halten Sie davon?

Lindner: Das halte ich für Unsinn. Wenn man auf Sanktionen verzichtet, erweckt man den Eindruck, Hartz IV sei eine Art Grundeinkommen. Die Solidarität der Gesellschaft erfolgt aber nicht ohne Gegenleistung. Die Gegenleistung ist, dass man nur so lange wie nötig solidarische Leistungen in Anspruch nimmt. Ich wünsche mir klare Sanktionen, wenn man sich nicht um Arbeit, um Bildung, um Sprache bemüht. Denn machen wir uns das mal klar: Bei Hartz IV geht es auch um Integration. Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger mit Zuwanderungs- oder Fluchtgeschichte wird in den nächsten Jahren explodieren. Auf Sanktionen zu verzichten, würde hier das Signal aussenden: Du brauchst dich gar nicht zu integrieren.

Frage: Es gibt Flüchtlinge, die haben Qualifikationen, dürfen aber nicht arbeiten, weil sie nur geduldet sind. Das ist doch widersinnig.

Lindner: Ich kann nur zustimmen. Die neue Regierung wäre gefordert, unser Zuwanderungsrecht zu modernisieren. Man muss drei Zugänge nach Deutschland klar trennen: Erstens das Asylrecht für diejenigen, die individuell verfolgt sind. Zweitens vorübergehender Schutz für diejenigen, die vor einem Krieg oder einer Naturkatastrophe fliehen. Dieser Schutz muss begrenzt sein auf die Zeit, in der die Heimat nicht sicher ist. Deswegen bin ich hier, abgesehen von absoluten Härtefällen, auch gegen einen Familiennachzug. Warum soll jemand, der gar kein Daueraufenthaltsrecht hat, seine Familie nachholen dürfen? Drittens qualifizierte Einwanderung mit einem klar geregelten Punktesystem. Wenn man dann noch zwischen den drei Bereichen wechseln könnte, hätten wir ein sauberes, in sich schlüssiges System.

Frage: Ähnliche Forderungen gibt es bereits seit vielen Jahren, doch es tut sich nichts.

Lindner: Das Einwanderungsthema ist eine deutsche Lebenslüge. Es fing mit dem Wort „Gastarbeiter“ an, weil man dachte, diese würden wieder gehen. Es ging weiter mit dem Satz, Deutschland sei kein Einwanderungsland, und reicht bis zur naiven Vorstellung der politischen Linken, Integration vollziehe sich von allein oder Integration sei vor allem unsere Aufgabe als aufnehmende Gesellschaft. Integration ist aber zuerst Aufgabe derjenigen, die hierherkommen. Diese Lebenslügen aufzulösen, ist eine Schlüsselfrage der kommenden Jahrzehnte – weil damit die Befriedung der Gesellschaft und die Stabilität unseres Sozialstaats verbunden sind. Und da kann man ganz schnell Fehler machen – wie Markus Söder.

Frage: Sie spielen auf seine Anordnung an, das Kreuz in Behörden aufhängen zu lassen?

Lindner: Das ist ein schwerer Fehler für eine liberale, offene Einwanderungsgesellschaft, die auf der einen Seite qualifizierte Menschen aus der Welt braucht und die auf der anderen Seite dafür sorgen muss, dass es hier friedlich zugeht. Der Staat kann aber die Gesellschaft nur dann befrieden, wenn er selber weltanschaulich neutral ist. Er kann sich also nicht auf die Seite der Christen, der Muslime oder der Atheisten stellen.

Frage: In Bayern scheinen die Umfragen Söder aber recht zu geben: 56 Prozent halten die Kreuz-Entscheidung für richtig.

Lindner: Das sind individuelle religiöse Überzeugungen, die ich achte. Das Wesen unserer Demokratie ist aber eine Liberalität, in der die Mehrheit von 56 Prozent in Glaubensfragen Rücksicht auf die anderem 44 Prozent nimmt. Deshalb ist das Grundgesetz neutral, damit der Rechtsstaat Schiedsrichter ist und für Frieden sorgen kann. Demokratie ohne solche Rücksichtnahmen wäre illiberal. Das ist das Konzept Orban (ungarischer Ministerpräsident, d. Red.), das nicht zu einem modernen Bayern passt.

Frage: Das heißt, Sie sehen eine Orbanisierung der CSU?

Lindner: Die Gefahr besteht zumindest. Herr Dobrindt schreibt von einer konservativen Revolution und meint damit nicht nur das Bekenntnis zur Marktwirtschaft, sondern auch restaurative gesellschaftliche Werte. Herr Seehofer sagt, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Nun kommt Söder mit dem Kreuz. Das ist schon systematische Arbeit, Religion zu einer politischen Kategorie zu machen. Ich gehöre zum Beispiel keiner Kirche an. Gehöre ich dann nicht zu dieser Leitkultur? Ich kann nur sagen: Wem es nicht geheuer ist, was Markus Söder macht – die Ausgabenpolitik, um sich Stimmen zu kaufen, das Kreuz, um sich beliebt zu machen –, der hat bei der Landtagswahl nur eine Chance: FDP zu wählen.

Frage: ... die dann in eine Koalition mit der CSU eintritt.

Lindner: Das wird sich zeigen. Wenn man gut und verantwortlich regieren kann, dann machen wir das gerne. Dass die CSU gerade so gegen die FDP wettert, hat einen Grund: Sie will uns aus dem Landtag halten, weil sie weiß: Wenn wir drin sind, gibt es keine absolute Mehrheit für die CSU.

Frage: Söder plant eine Begrenzung der Amtszeit des Ministerpräsidenten auf zwei Legislaturperioden, also auf zehn Jahre. Was halten Sie davon?

Lindner: Damit hätte Markus Söder als Ministerpräsident nur eine Legislaturperiode für echtes politisches Gestalten, denn spätestens am Abend der Landtagswahl 2023 würde die Nachfolgediskussion in der CSU beginnen. Ich kann mir seinen Plan einer Amtszeitverkürzung deswegen nur so erklären: Ich vermute, dass Markus Söder darüber nachdenkt, Unions-Kanzlerkandidat für 2021 zu werden. Er will wohl schaffen, was Franz Josef Strauß und Edmund Stoiber nicht geschafft haben und Kanzler werden – oder es zumindest versuchen.

Frage: Selbst wenn er diese Ambitionen hätte: Warum schon 2021? Das könnte er doch auch später noch machen.

Lindner: Der Nachfolger oder die Nachfolgerin von Angela Merkel wird aber zur Wahl 2021 bestimmt. Bei der darauffolgenden Wahl 2025 würde dieser Nachfolger dann womöglich fest im Sattel setzen und innerhalb der Union andere Kanzlerkandidaturen unmöglich machen.

Frage: Die jüngsten Umfragen sahen vor allem die AfD im Aufwind. Ist es nicht so, dass je härter die CSU fährt, desto stärker die AfD profitiert?

Lindner: Sie haben völlig recht. Das ist generell ein Fehler der Konservativen: zu glauben, man mache autoritäre, völkische Parteien klein, indem man ihre Parolen übernimmt. 1989 stellte Theo Waigel die Oder-Neiße-Linie infrage, weil man Angst vor den Republikanern hatte – mit dem Ergebnis, dass sie fast in den Landtag gekommen wären. Man macht die AfD nicht klein durch die Übernahme ihrer Parolen. Die AfD macht man klein, indem man die Probleme klein macht, die die Partei groß gemacht haben – und das ist die Frage der Einwanderung. Ich wünsche Herrn Seehofer Fortune bei dieser Frage. Eine Debatte darüber anzustoßen, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht, löst aber kein Problem.

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