
BUSCHMANN-Gastbeitrag: Linke Prüderie
Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion Dr. Marco Buschmann schrieb für die „Welt“ (Dienstagsausgabe) den folgenden Gastbeitrag:
Die Prüderie schlägt zurück. Sie verhängt Bilder in Galerien und Rathäusern. Sie übermalt Gedichte auf Häuserwänden. Sie nimmt Autoren ihren Verlag, wenn diese öffentlich ihre Meinung sagen. Viele haben gehofft, dass diese Verhaltensweisen, die sich „auf eine übertriebene und affektierte Weise sittsam“ geben (Pierers Universallexikon von 1861), spätestens mit dem „anything goes“ der Jahrtausendwende ausgestorben seien. Doch heute steigen ihre Wiedergänger als Zombies der Alltagskultur aus dem Grab, wandeln umher und versuchen, ihr Gift zu verspritzen.
Gift ist es, weil es den Lebensnerv der liberalen Demokratie zu lähmen droht. Die einen erkennen diesen Nerv in der Ethik der Freiheit. Sie verlangt nach der Freiheit der Meinung, der Rede, der Forschung, der Lehre und der Kunst. Denn diese Freiheiten sind Ausdruck der Würde des Menschen als eines zum Denken und zur schöpferischen Fähigkeit begabten Wesens. Andere erkennen den Lebensnerv der liberalen Demokratie in ihrer Nützlichkeit für Innovation. Die Freiheit zu widersprechen, auch zu nerven, abzuweichen, zu provozieren und zu irritieren löst sogenannte meaning threads aus. Der Psychologe Travis Proulx hat gezeigt, dass Menschen, die mit diesen Sinn- oder Bedeutungsbedrohungen konfrontiert sind, anschließend einen erhöhten Drang verspüren, etwas verstehen oder einordnen zu wollen. Sprich: Die Irritation wirkt gedanklich anregend. Sie legt intellektuelles Potenzial frei und führt zu neuen Ideen. Diese Innovationskraft ist es, auf der Wohlstand und Lebensweise des liberalen Westens beruhen.
Welcher der beiden Denkschulen man auch immer anhängt (man kann auch beiden zugleich folgen): Prüderie ist entweder ein Angriff auf die Ethik der Freiheit oder die Innovationskraft unserer Gesellschaft oder beides. Kurz: Sie ist ein Ärgernis! Die Öffentlichkeit muss sich für sie sensibilisieren, mit Misstrauen im Blick behalten und ihr entschlossen entgegentreten.
Die Hohepriester der Prüderie tragen schon lange nicht mehr die Soutane. Sie verkleiden sich als angebliche Vertreter eines sogenannten Linksliberalismus. Doch mit Liberalismus können Verhaltensweisen, die die Ethik der Freiheit und die Innovationskraft der öffentlichen Irritation mit den Hüllen der Scham verbergen wollen, nichts zu tun haben. Es handelt sich um Linke, die sich nach dem peinlichen Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus erst in Osteuropa und dann dem Rest der Welt ein Tarnmäntelchen umgelegt haben. Es handelt sich um Menschen, die der Meinung sind, dass es absolute Maßstäbe für „die eine richtige Politik“ oder „die eine richtige Verhaltensweise“ in der Öffentlichkeit geben könne.
Diese absoluten Maßstäbe bilden auch den etymologischen Ursprung der Prüderie: Das Altfranzösische kannte sowohl die „prodefemme“ und den „prud'homme“, die sittsame Frau und den tapferen Mann. Sie sind Ausdruck des kosmischen Denkens des Mittelalters. Danach habe alles seinen einen richtigen und von Gott gegebenen Platz. Daraus ergibt sich ein allgemein verbindlicher Verhaltenskodex für Sittsamkeit und Tapferkeit - kurz: für das eine richtige Verhalten. Heute trägt die Prüderie keine christliche Kosmologie mehr vor sich her. Sie zelebriert ein durch sich selbst für korrekt erklärtes Bild von Staat und Gesellschaft mit - und das ist das Ärgernis - absolutem Allgemeinverbindlichkeitsanspruch.
Liberale wissen, dass es solche abstrakten, ewigen und für jedermann stets gültigen Verhaltensregeln nur in sehr begrenztem Umfang geben kann: Schade niemandem, und respektiere jedermanns Würde und Freiheit! Gerade echte Liberale müssen sich daher den Aposteln der moralischen Überformung jeder Art öffentlicher Kultur entgegenstellen.
Das Grundrecht der Meinungsfreiheit ist auf Konflikt angelegt. Das Grundrecht der Forschung ist auf Disputation angelegt. Das Grundrecht der Kunst ist auf Irritation angelegt. Grundrechte binden zwar zuerst den Staat. Doch sie enthalten auch eine objektive Wertordnung, die für die Gesellschaft auch den Maßstab der Toleranz einfordert.
Diese Werteordnung will die Toleranz vor der anderen Meinung, vor dem kaum nachvollziehbaren Argument oder vor der Kunst, die irritiert. Toleranz heißt weder Zustimmung noch Wertschätzung. Toleranz heißt schlicht, Vielfalt und Widerspruch zu ertragen. Diese Tugend müssen wir verteidigen, wenn wir die liberale Demokratie verteidigen wollen.