Wolfgang Kubicki
Pressemitteilung

KUBICKI-Gastbeitrag: Lockerungen sind kein Gnadenakt, sondern Pflicht

Das FDP-Fraktionsvorstandsmitglied Wolfgang Kubicki schrieb für die „Welt“ (Mittwochsausgabe) den folgenden Gastbeitrag:

Die Bundeskanzlerin hatte ihre Worte gut durchdacht, die sie in ihrer Regierungserklärung in der vergangenen Woche an die deutsche Öffentlichkeit richtete. Sie mahnte, sie lobte und sie erklärte, dass diese Pandemie eine „demokratische Zumutung“ sei. Und richtigerweise sagte sie, dass die Einschränkungen nur akzeptabel und erträglich seien, wenn die Gründe „transparent und nachvollziehbar sind“. Für diese Erklärung erntete Angela Merkel viel Lob. Gelobt wurde sie von einer politischen Kommentatorin unter anderem dafür, dass sie bei der Bekämpfung der Corona-Krise so offen wie noch nie über eigene Befürchtungen gesprochen habe.

Kaum jemand fragte jedoch anschließend, ob die Bundeskanzlerin eigentlich die selbst gesetzten Maßstäbe erfüllt hat. Denn sie gab keine Erklärung darüber ab, was das epidemiologische Ziel der Bundesregierung ist. Das wäre aber die notwendige Bedingung dafür, um die Grundrechtseinschränkungen transparent und nachvollziehbar aufrechtzuerhalten. Nur wenn wir wissen, welche konkrete Richtgröße angestrebt wird, können auch die Maßnahmen so zielgerichtet und so grundrechtsschonend wie möglich eingesetzt werden.

Dass über das genaue Ziel nach mehreren regierungsamtlich vollzogenen Volten weitestgehend Unklarheit herrscht, kann man nicht verleugnen: Zuerst sollte die Überlastung des Gesundheitssystems verhindert werden. Dieses Ziel wurde mittlerweile übererfüllt. In einigen Krankenhäusern wurde sogar Kurzarbeit beantragt. Dazu kam der Ansatz, die Geschwindigkeit der Verdoppelung der Infektionszahlen müsse auf mehr als zehn Tage, noch besser auf 14 Tage reduziert werden. Wir sind bei 50 Tagen. Dann war die ominöse Reproduktionsquote die offizielle Bezugsgröße. Diese Quote war jedoch schon vor dem kompletten Lockdown unter dem kritischen Wert 1 und blieb seitdem auch weitgehend darunter. Einen Tag nach der Regierungserklärung verkündete das Robert-Koch-Institut dann, erst wenn die Zahl der Neuinfektionen auf „wenige Hundert“ gedrückt werde, seien weitere Lockerungen möglich. Vom Gesundheitsexperten der regierungstragenden SPD, Karl Lauterbach, hörte man Mitte April in einer Talksendung sogar, man müsse „wahrscheinlich das, was wir jetzt machen, für anderthalb Jahre durchhalten“. Also: Kitas und Schulen geschlossen halten, viele Geschäfte und Gastronomie ebenfalls. Der Zusammenbruch ganzer Wirtschaftszweige und Millionen von Arbeitslosen wären die Folge.

Vor diesem Hintergrund war die Regierungserklärung von Angela Merkel aus grundrechtlicher Sicht eine große Enttäuschung. Wenn sie als Bundeskanzlerin schon den Anspruch erhebt, gemeinsam mit den Ministerpräsidenten für die Grundrechtseinschränkungen zuständig zu sein, dann wäre es ihre Pflicht gewesen, die Einschränkungen in der Regierungserklärung zu erläutern, ihre Wirksamkeit entlang des selbst gesteckten Zieles zu begründen und transparent zu machen. Und es wäre ihre Aufgabe gewesen, den Menschen im Land eine Perspektive zu geben, was nach ihrer Ansicht wann und wie aufgehoben werden muss. Das ist jedoch nicht geschehen.

Statt Erklärungen gab es Lob für die Bürgerinnen und Bürger, die diese nicht ausreichend begründeten Zumutungen über sich ergehen lassen mussten. Das ist zwar nett und ein schönes Symbol. Mit einem Lob ist es aber nicht getan. Ein mündiger Bürger kann regierungsamtliche Erklärungen für die Begrenzungen erwarten, die ihm seit ein paar Wochen auferlegt werden. Auch wenn in diesen angstgetriebenen Zeiten manchmal der gegenteilige Eindruck entsteht: Die Aufhebung der grundrechtlichen Eingriffe ist kein höflicher Gnadenakt der Exekutive. Es ist ihre verfassungsmäßige Pflicht. Können bestimmte Grundrechte nicht aufgehoben werden, steigt mit jedem Tag die Begründungsnotwendigkeit für den Eingriff.

Wir müssen aufpassen, dass durch Corona keine Verschiebung des grundrechtlichen Blickwinkels eintritt. Es gilt auch in dieser Krise, dass der Zweck nicht alle Mittel heiligt. Der Bekämpfung von Corona kann nicht alles untergeordnet werden. Wie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble richtigerweise feststellte, steht Artikel 1 (Menschenwürde) unseres Grundgesetzes im absoluten Zentrum unseres politischen Handelns – und nicht Artikel 2 Absatz 2 (Recht auf Leben). Wir unterbinden auch nicht den Verkehr, obwohl wir jedes Jahr mehr als 3000 Verkehrstote zu beklagen haben und schließen auch nicht die Krankenhäuser, obwohl sich jedes Jahr zwischen 20.000 und 40.000 Menschen dort tödlich infizieren.

Die Aufgabe des demokratischen Rechtsstaates ist es deshalb, Menschen in jeder Situation würdig zu behandeln, sie nicht zu erziehen oder ihnen bestimmte Verhaltensweisen aufzuerlegen. Seine Aufgabe ist, Entscheidungen transparent und nachvollziehbar zu gestalten und bestmöglich die verfassungsmäßigen Grundrechte zu wahren. Der Staat kann nicht verhindern, dass man sich infiziert. Er kann und muss aber dafür sorgen, dass jeder die bestmögliche Behandlung bekommt.

Wenn dann in der Abwägung aller Aspekte die politische Schlussfolgerung ist, bis zur Entwicklung eines Impfstoffes das Abstandsgebot zu wahren und besondere Hygienemaßnahmen aufrechtzuerhalten, dann wäre dies eine nachvollziehbare und grundrechtsschonende Maßnahme. Behördliche Aufgabe wäre es dann, Regelverstöße, wie etwa Corona-Partys, zu verfolgen und zu sanktionieren.

Der demokratische Staat vertraut auf den mündigen, erwachsenen Bürger. Hinter dieser Idee steht ein respektvolles Menschenbild. Dieses Bild hat in den vergangenen Tagen jedoch einige Macken bekommen, weil die Menschen von der Politik keinen gütigen Applaus, sondern vernünftige Erklärungen verdient haben. Wenn die Kanzlerin sagt, diese Pandemie sei eine demokratische Zumutung, kann ich nur entgegnen: Die fehlenden Begründungen der Kanzlerin sind eine demokratische Zumutung.

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